Mythen und Märchen im deutschen TV #1: Sisyphos (Beate aus Schwiegertochter gesucht)

Kennt ihr das: Ihr sitzt vor der Glotze, schaut Schrott-TV … und habt den Eindruck, dass sich die Macher*innen hinter den Sendungen heimlich durch ihre Bildschirm-Figuren an uralten Mythen und Märchen abarbeiten?  Mir geht es immer einmal wieder so, dass ich als Subtext die griechische oder römische Mythologie, Grimms Märchen oder einen Roman-Klassiker quasi mitlaufen sehe.

Allerdings nicht durch mehr oder weniger versteckte Anspielungen oder gar direktes Namedropping. Vielmehr denke ich dann, dass da wohl jemand die ollen Kamellen fortschreiben und ihnen seinen  ganz eigenen Stempel aufdrücken will. Ich vermute eh, dass sich die Redaktionen einschlägiger Sender zu großen Teilen aus gescheiterten und/oder zynischen Geisteswissenschaftler*innen zusammensetzen. Aber ich sollte das lieber positiv wenden – womöglich haben die Kolleg*innen einfach erkannt, dass Serien und „Reality“-Shows DIE zeitgemäßen narrativen Formate sind.

Ein wenig über Mythen und Märchen im TV zu sinnieren, scheint mir daher eine Reihe wert.

Und das aus gegebenem Anlass: Vor kurzem feierte der Kölner Sender RTL das 10jährige Jubiläum seiner Kuppel-Show „Schwiegertochter gesucht“. Der strapaziöseste Stabreim-Strahl, der jemals aus dem Dickicht des deutschen Dämlich-Fernsehens hervorgeschossen ist. Die Sendung, die das guilty pleasure des Trash TV wie kaum eine andere zur selbstauferlegten guilty torture werden lässt. Es ist wie mit toten Tieren auf der Straße: grauenvoll, und doch kann man aus unerfindlichen (Ab-)Gründen nicht nicht hingucken.
Just in dieser Sendung blickte mir an den vergangenen drei Sonntagen eine altbekannte mythologische Figur leicht schielenden Auges entgegen – niemand Geringeres nämlich als Sisyphos.
Ihr wisst schon, der Typ, der die Götter ein ums andere Mal austrickst, bis er schließlich in der Unterwelt die Quittung dafür bekommt: bis in alle Ewigkeit muss er fortan einen schweren Felsblock einen Hügel hochrollen. Dieser kullert jedoch kurz vor dem Ziel immer wieder herunter, so dass das Spielchen von vorne losgehen kann.

Der TV-Sisyphos unserer Tage ist sozusagen eine Sisypha. Statt mit einem listenreichen, verschlagenen König haben wir es mit einer, nun, eher simpel gestrickten, grundaufrichtigen Person zu tun, die den bodenständigen deutschen Namen Beate trägt.
Wo Sisyphos sich wieder und wieder mit derselben Aufgabe plagt, die offensichtlich ebenso sinn- wie ziellos und von den Göttern als Strafe gedacht ist, verhält es sich bei Beate auf den ersten Blick vollkommen anders: Sie selbst hat sich aus freien Stücken an RTL gewandt, auf der Suche nach etwas, das für viele geradezu als Sinn des Lebens gilt: Beate möchte bei „Schwiegertochter gesucht“ endlich ihren Traumpartner finden. Für dieses hehre Ziel scheuen sie und ihre vermeintliche Helferin, die Moderatorin Vera Int-Veen, weder Kosten noch unkonventionelle Mühen.

In der Hoffnung auf den erlösenden Kuss macht sich Beate stets auf´s Neue zu ihrem jeweiligen potenziellen Traumprinzen auf oder lässt sich von der „moppeligen Moderatorin“ (O-Ton Int-Veen über sich selbst) erwartungsfrohe Frösche nach Hause liefern, wo sie mit ihnen bizarre Liebes-Castings veranstaltet. Da für die große Liebe kein Weg zu weit und kein Opfer zu schmerzhaft scheint, lässt sie sich in ferne Länder wie das „abenteuerliche Alaska“ oder das „bezaubernde Bali“ verschiffen, um dort „den Richtigen“ zu finden. Auch schreckt sie nicht vor geographisch näheren und doch für sie mindestens ebenso fremden Welten wie dem gynäkologischen Stuhl oder dem Hamburg Lilo Wanders´ zurück, wo sie auf etwas handfestere Weise „auf die Liebe vorbereitet“ werden soll. Sie lässt sich hofieren und umgarnen, zeigt aber auch selbst beachtlichen musischen Einsatz: Den Herren ihrer Gunst trägt sie mit Vorliebe „ihre Gedichte“ (abgedroschene Poesie-Albums-Verslein) vor oder trällert für selbige im Brautkleid, mit dem Walkman (!) in der Hand, dem Kopfhörer auf den Ohren und einem Prinzessinnen-Krönchen auf dem Kopf, Schlagerschnulzen.

So geht es nun schon seit Jahren. Und auch wenn es oft so wirkte, als hätte unsere tapfere Heldin endlich, endlich den passenden Deckel zu ihrem Topf gefunden, ja auch wenn bereits ein besonders engagierter Anwärter um ihre Hand angehalten hat, dürfen wir uns von alledem nicht täuschen lassen: Es wird ewig so weitergehen. Beate wird ebenso wenig ans Ziel ihrer Träume gelangen wie Sisyphos jemals den Felsbrocken endgültig den Berg hochgewälzt haben wird.

Denn Beate mag sich für eine Prinzessin in ihrem eigenen Märchen und das Team um Vera Int-Veen für ihren Hofstaat halten – in Wirklichkeit aber ist sie in einen ganz anderen Mythos hineingeraten. Im Namen des höchsten Gutes der „wahren Liebe“ ist sie zum bevorzugten Spielball der RTL-Götter geworden.

In der Figur der Sisypha Beate konzentriert sich und kulminiert, was die Sendung als Ganze das letzte Jahrzehnt über darstellt: Wie Anja Rützel in diesem großartigen Artikel schreibt, führt „Schwiegertochter gesucht“ das Romantik-Business unserer Tage in all seinen ausgelutschten Facetten als performativen Akt und absurdes Theater vor. Es handelt sich um eine Parodie auf die Balzrituale und den Liebeskitsch, der uns medial umgibt und den wir – meist eher daneben als gelungen – in unseren Alltags-Schmonzetten reinszenieren.

Es ist grandios. Nein, es wäre grandios und könnte ganz große Kunst sein, wenn es da nicht einen bedeutenden Haken gäbe. Ein dadaistischer Performance-Akt braucht Akteure, und genau das sind die Leutchen in „Schwiegertochter gesucht“ nicht wirklich. Eher schon Opfer, obwohl sie freiwillig mitmachen. Jedoch haben wir es nahezu ausnahmslos mit Menschen zu tun, die tatsächlich noch außerhalb des Spiegelkabinetts ironischer Brechungen leben. Sie nehmen die Sache ernst, wo RTL – und nicht zuletzt wir als Zuschauer*innen – sie veralbern und zu unserem Amüsement benutzen.
Das schlechte Gewissen der Zuguckenden ist dabei nicht weniger eingeplant als die Zurschaustellung der Teilnehmer*innen als Deppen, dessen bin ich mir ziemlich sicher. Auch wir werden uns vorgeführt, als armselige Vollpfosten, die sich zu ihrer Belustigung armselige Vollpfosten vorführen lassen.

Dreht man die Schraube ein bisschen weiter in diese Richtung, ist „Schwiegertochter gesucht“ vielleicht fast schon wieder pädagogisch. Mir jedenfalls ging es nicht selten beim Zuschauen so, dass ich letztendlich dachte: Warum um alles in der Welt soll jemand denn bitteschön nicht seine Freizeit mit Kratzbildern oder Zuckertütchen-Sammeln verbringen, wenn es ihm oder ihr doch aufrichtig Freude bereitet? Was ist so falsch daran, Schäferhund-Pullis zu tragen, weil sie einem einfach gefallen, oder sich nicht jedes einzelne Haar am Körper auszurupfen, weil man nicht permanent über die optimale Selbstdarstellung nachdenkt?
Ist nicht manches „Hobby“ der hipperen Gestalten unter uns wesentlich lächerlicher? Ist es nicht schon eher maximal bekloppt, Orte quasi nur noch zu besuchen und Speisen nur noch zu essen, um aufgemotzte Fotos von ihnen bei Facebook zu teilen? Um alles daran zu setzen, ein bestimmtes Ich-Image zu kreieren, dabei aber zu betonen, wie egal einem der Blick der anderen ist?

Bevor ich einen wichtigen Aspekt vergesse: Ein nicht unwesentlicher Grund für das Scheitern von Beates Flirt-Avancen ist „ihre liebe Mutter Irene“, die kaum von ihrer Seite weicht. So sehr sind „Beate und Irene“ im Innersten miteinander verbandelt, dass RTL ihnen im letzten Sommer eine eigene TV-Show gleichen Namens gewidmet hat.
An dieser Stelle gewinnt die neuaufgelegte Sisyphos-Story ein beinahe ödipales Moment: Beate mag die feste Absicht haben, einen Partner zu finden und sich somit ein Stück weit aus der engen Beziehung zu ihrer Mutter zu lösen. Aber was sie tut, um der mütterlichen Umklammerung zu entkommen, führt sie nie wirklich von dieser weg, sondern ganz im Gegenteil nur noch mehr zu ihr zurück. Die jahrelange gemeinsame Bräutigamschau beweist nur von Mal zu Mal eindrücklicher, dass der Mensch an Beates Seite kein Mann, sondern ihrer Mutter ist und bleibt.

So trottet unsere Sisypha weiterhin behäbig, aber unverdrossen von Flirt-Abenteuer zu Flirt-Abenteuer, von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen, und wird es auch morgen noch tun und übermorgen und überübermorgen…

Ob wir uns Beate trotz oder gar wegen dieser ganzen vergeblichen Turbulenzen als glücklichen Menschen vorstellen können?