Lieblingsstreberin: Flavia de Luce

Das Missy Magazine kürt in jeder neuen Ausgabe einen fiktiven Charakter zur Lieblingsstreberin. Wenn eine den Inbegriff dieses Ehrentitels verkörpert, dann ist das meiner bescheidenen Meinung nach Flavia de Luce. Ich möchte sie deshalb als meine persönliche Lieblingsstreberin ergänzen.

Flavia de Luce ist die investigative Heldin einer Krimi-Reihe des kanadischen Autors Alan Bradley. Mit ihren gerade einmal 11 Jahren ist sie alles andere als ein gewöhnliches Mädchen.

Man könnte sie vielleicht als „frühreif“ bezeichnen, aber ich bin mir unsicher, ob dieses Wort außerhalb von 70er Jahre-Aufklärungsfilmchen gebraucht wird und nicht eher missverständlich rüberkommt… Was ich sagen will: Flavia ist hochintelligent und sieht die Welt um sie herum mit klugem, kritischem Blick.

Ihre Welt ist ein ländliches England in den 1950ern. In der Nähe des Dörfchens Bishop´s Lacey lebt sie auf dem altehrwürdigen Familienanwesen Buckshaw.

Zu ihrer Familie gehört zunächst der Vater, ein Patriarch alter, gefühlsunterkühlter Schule vom Typus „Stock im Popo“. Sodann die beiden älteren Schwestern mit den gänzlich unprätentiösen Namen Daphne und Ophelia, mit denen Flavia nicht wirklich etwas anfangen kann. Die eine steckt permanent mit der Nase in Romanen, die andere ist in erster Linie mit ihrer eigenen Nase und dem Rest ihres Spiegelbilds beschäftigt. Von Geschwisterliebe spürt man wenig. Was eine Art von Beziehung zwischen den drei Mädchen stiftet, ist wenn überhaupt der Wunsch, die anderen beiden verbal oder mit Streichen so richtig in die Pfanne zu hauen. Last but not least zählt außerdem Dogger zu den Bewohnern Buckshaws, ein vom Krieg traumatisierter Freund des Vaters, der als Junge für alles des Hauses fungiert.

Über alledem schwebt der Geist der verstorbenen Mutter Harriet, einer eigensinnigen Abenteuerin, die bei einem Ausflug ins Himalaya-Gebirge ums Leben kam, als Flavia gerade einmal ein Jahr alt war. Man munkelt, unsere Protagonistin habe ihren Charakter von dieser badass Mama. Ganz sicher ist, dass sie von ihr eine unsterbliche Leidenschaft geerbt hat: die Liebe zur Chemie. Nichts bereitet Flavia mehr Freude, als über dicken Wälzern zu brüten, die sie in die Geheimnisse dieser Disziplin einweihen, und selbst im Labor zu erproben, was sich mit der Macht des Wissens und der Elemente hervorzaubern lässt. Unter den Wundern, die ihr die Chemie enthüllt, fasziniert sie vor allem eines: Gift.

„Gift?! Das ist doch nichts für liebe, brave Mädchen!“, mag man einwenden. Sehr richtig. Aber Flavia will auch nichts weniger sein als das. Das unschuldige girly girl spielt sie allerhöchstens mal, wenn es ihr strategisch nützt. Ansonsten hat sie nicht viel dafür übrig, für ein süßes Herzchen gehalten zu werden – dank ihrer Passion aber das richtige Mittel für diejenigen parat, die genau das tun:
„If there is a thing I truly despise, it is being addressed as „dearie“. When I write my magnum opus, A Treatise Upon All Poisons, and come to „Cyanide“, I am going to put under „Uses“ the phrase „Particularly efficacious in the cure of those who call one „Dearie“.“

Bereits in ihrem jungen Alter ist die Nachwuchs-Chemikerin eine überzeugte Feministin. Was bleibt einer auch anderes übrig, bei der irrsinnigen Behandlung, die die Welt Frauen und Mädchen zuteil werden lässt? Beispielsweise wenn der Kommissar sie als wichtige Zeugin nicht um einen Faktenbericht, sondern um eine Tasse Tee bittet:
„Without so much as a kiss-me-quick-and-mind-the-marmalade, the only female in sight is enlisted to trot off and see that the water is boiled… The nerve! The bloody nerve!“

Und das, obwohl sie alles hat, was es für eine wertvolle Zeugin braucht. Eine genaue Beobachtungsgabe. Einen cleveren, analytischen Kopf. Die Abgebrühtheit einer Person, die sich in brenzliger Lage fragt, was Marie-Anne Paulze Lavoisier wohl in dieser Situation getan hätte, statt die Nerven zu verlieren.

Eben dadurch eignet sie sich auch bestens als Ermittlerin mit ganz eigenen Methoden. Als solche möchte ich sie euch ans Herz legen.

Nach allem, was ich bisher geschrieben habe, könnt ihr euch sicher vorstellen, dass der Fund einer Leiche im Buckshawschen Gurkenbeet Flavia nicht völlig in Angst und Schrecken versetzt. Eher in einen Zustand kitzelnder Neugier, ja fast schon Freude. Neugierig und vorfreudig können auch die Leser*innen sein, denn damit beginnt ihr erster von bisher acht Fällen.
Das englische Original heißt „The Sweetness at the Bottom of the Pie“; in der deutschen Übersetzung lautet der Titel sinnigerweise „Mord im Gurkenbeet“ und ist bei Blanvalet erschienen.

Ich persönlich kann mich ja durchaus auch für männliche Spurensucher mittleren Alters erwärmen, die  wortkarg durch die Landschaft Skandinaviens/Großbritanniens/der USA/Frankreichs [Fehlendes bitte hier ergänzen: ______________ ] eigenbrödel-rödeln. Aber falls euch die zu langweilig sind oder ihr einfach mal Lese-Appetit auf was anderes habt – Flavia de Luce Mysteries sind eine echte Alternative.

 

Feminist Turn bei Game of Thrones?

!!! — SPOILER-ALERT — !!!

Frauen haben bei Game of Thrones in der Regel nicht viel zu lachen. (Aber wer hat das schon?!) Wie war das doch gleich: die Serie sei ein „mittelalterliches rape culture-Disneyland“; so oder so ähnlich erinnere ich mich gelesen zu haben. Dem lässt sich leider nicht ganz widersprechen.

Aber sollte es vielleicht Genugtuung und Gerechtigkeit für Westeros´ holde Weiblichkeit in Form eines (Re-)Empowerment starker Frauen-Figuren geben? Die gigantische letzte Folge der aktuellen Staffel, „Battle of Bastards“, deutet mehr denn je darauf hin.

Daenerys zeigt den Masters von Slavers´ Bay endgültig, wo der Hammer hängt – wer nicht hören will, muss brennen. Jedes Mal, wenn sie auf ihrem Drachen durch die Lüfte braust, ertappe ich mich dabei, wie ich zum Fan-Boy mutiere und sie innerlich Targaryen-rote Pompoms wedelnd anfeuere: „You go, girl! Daenerys Stormborn for Queen of Westeros!“ [Das habe ich hier bereits angedeutet.]

Als ob die lässige Rückeroberung Mereens nicht schon großartig genug wäre, verschwestert sich Daenerys außerdem noch mit einer weiteren coolen Sau unter den weiblichen Heldinnen, mit Yara Greyjoy. Die spricht bei der Mother of Dragons vor, um dieser ihre Unterstützung im Kampf um den Eisernen Thron zu offerieren und von ihr im Gegenzug Hilfe bei der Wiedergewinnung ihrer Heimat zu erbitten.

Denn Yara sieht es so gar nicht ein, von ihrem rechtmäßigen Anspruch auf die Herrschaft über die Iron Islands abzurücken. Bloß weil ihr misogyner Onkel meint, einen auf dicke Hose und jedem bzw. jeder – Daenerys inbegriffen – seinen darin befindlichen „big cock“ unter die Nase halten zu müssen. Gemeinsam beschließen die beiden Heroinnen daher, die leidige Unsitte abzuschaffen, Frauen das Zepter entweder gar nicht erst zu übergeben oder es ihnen notfalls wieder aus der Hand zu reißen.

Interessanterweise erfahren wir in dieser Staffel auch, dass Yara sich zu Frauen hingezogen fühlt, während sie in der Roman-Vorlage noch männliche Geliebte hat. In der Serie nun begehrt sie also Frauen, und geht dabei, wie schon auf dem Schlachtfeld, nicht weniger offensiv als die ihr untergebenen Mannen zur Sache.

Dies und ein eindeutig-zweideutiger Spruch sorgen derzeit unter den Fans für Entzücken und Spekulationen darüber, welcher Art das Verhältnis von Daenerys und Yara wohl sein oder noch werden mag… Wäre es nicht fast schon konsequent, wenn die beiden nicht nur politisch, sondern auch sexuell ohne Herren auskommen?

Apropos Dinge, die in der Serie anders verlaufen als in den Büchern:
Zum Worst Of der vergangenen Staffel gehörte für mich definitiv Sansas Schicksal. Klar, die Serien-Macher loten notorisch die Grenzen des Ertragbaren aus… aber mussten sie Sansa nach dem bitteren Joffrey-Martyrium noch ausgerechnet in Ramsay Boltons über-sadistische Arme treiben?

Umso begeisterter war ich von der Stärke, die Sansa in der letzten Folge demonstriert. Klarer Fall: ohne die Hilfe seiner Schwester wäre Jon Snow bei allem kämpferischen Geschick, bei allem Mut einfach nur niedergetrampelt worden. Winterfell wäre für die Starks wohl für immer verloren gewesen.

Nicht schlecht gefällt mir auch, dass Sansa und Jon in ihrem Verhalten sozusagen die Geschlechter-Klischees umdrehen: Während Jon emotional-impulsgetrieben handelt und sich trotz Sansas ausdrücklicher Warnung nicht so weit kontrollieren kann, dass er nicht in Ramsays offensichtliche Falle tappt, taktiert Sansa mit cleverem Kalkül. Sie stellt ihre Gefühle und den Drang, Peter Baelish auf direktem Wege in die Hölle zu schicken, zugunsten des größeren Ziels hintan. Sie sieht, wo ihre einzige Chance liegt, und nutzt sie.

Ehrlich gesagt gefällt mir sogar, dass sie ihrem Peiniger Ramsay ein extrem grausames Ende bereitet. Nicht weil mir Grausamkeit per se zusagen würde, sondern weil es Sansa menschlicher macht. Ich kann es nicht besonders leiden, wenn Frauen-Figuren zu süßlichen Engeln verklärt werden, die das „Ideal“ der alles ertragenden Tugend und Güte bis zur Dämlichkeit verkörpern. Denn auch diese Idealisierung ist, wie die reine sexuelle Objektifizierung, eine Art Entmenschlichung.
Die Zeiten, in denen Sansa immer nur damenhaft, hübsch und züchtig war und den Kopf voller Ritter-Romanzen hatte, sind endgültig vorbei. Gut so.

Von der letzten Folge abgesehen, habe ich überhaupt den Eindruck, dass Staffel 6 die Staffel ist, in der Frauen entscheidende, vielleicht die entscheidenden Rollen spielen – im Guten wie im Schlechten, mal mehr, mal weniger offensichtlich.

Cerseis Löwinnen-Stolz ist von ihrer Demütigungs-Tour quer durch King´s Landing nicht gebrochen, sondern nur noch mehr befeuert worden. Sie sagt ihrem Bruder und Geliebten Jaime, was er zu tun und wohin er mit seinen Truppen zu reiten hat. Queen Margaery steuert King Tommen (leider in den blinden Fanatismus, aber das ist ein anderes Kapitel). Arya Stark wird nach vielen harten Prüfungen zum Glück nicht Niemand, sondern (wieder) sie selbst. Melisandre wird durch die Einsicht in ihre eigene Fehlbarkeit nicht bloß sympathischer, sie wirkt sogar in ihrer neuen Brüchigkeit paradoxerweise auch kraftvoller denn je. Ich meine, hey, jemanden von den Toten wieder ins Leben zu rufen, ist gar keine so üble Leistung.

Auch die weiblichen Neben-Charaktere sind wesentlich mehr als nur dekoratives Beiwerk: Lyanna Mormont, die sehr junge Herrscherin der Bear Islands etwa, hat es mit ihrer Schlagfertigkeit schon nach einem kurzen Auftritt zu einer soliden Fan-Base gebracht. Und die fabulöse „Queen of Thorns“ würde ich mir von Margaery sowieso gerne mal als völlig nicht Oma-like Oma ausborgen.

Verrückt, aber wahr: ausgerechnet Game of Thrones bietet uns so viel mehr als einen haarscharf bestandenen Bechdel-Test.

Ach, ich weiß gar nicht, ob ich es bereits erwähnt habe, aber wenn ich so darüber nachdenke… will ich Daenerys am Ende unter allen Umständen auf dem Eisernen Thron sehen.
Alles andere wäre enttäuschend.

Jon Snow lebt

(Ich würde ja so etwas wie SPOILER-WARNUNG schreiben… Aber eigentlich dürfte es klar sein, dass ich spoilere bzw. ist der Titel allein schon Spoiler genug.)

Frei nach dem Motto „Besser spät als nie!“ möchte ich an dieser Stelle auch meinen Senf zum Thema Tod und Wiederauferstehung Jon Snows abgeben.

Nach „Home“, der letzten Folge von Game of Thrones, gab es so etwas wie ein kollektives Aufatmen der Fan-Gemeinde:
Jon Snow, Ned Starks Bastard-Sohn und Lord Commander der Nachtwache, ist wirklich gestorben, ja, aber er wird durch den Zauber der roten Priesterin Melisandre wiedererweckt und kehrt so aus dem Reich der Toten zurück ins Leben.

Die Macher von „Game of Thrones“ sind wie George R.R. Martin, Autor der dieser Serie zugrundeliegenden Roman-Reihe „A Song of Ice and Fire“, grausame Götter: Sie sind bekannt dafür, vom Publikum geliebte, zentrale Figuren in den unerwartetsten Momenten fürchterliche Tode sterben zu lassen. Insofern hätte es uns nicht verwundern dürfen, wenn nun auch das Ende Jon Snows gekommen wäre.

Dennoch war ich mir absolut sicher, dass das nicht sein und dieses Ende sich nur als nicht endgültiges entpuppen kann. Wohlgemerkt, ich dachte nicht „Das DARF nicht sein!“, wie etwa in dem Moment, in dem die Fleisch gewordene Willkür Prinz Joffrey Ned Stark köpfen lässt. Ich dachte „Das KANN nicht sein.“ Warum ich persönlich diese unerschütterliche Gewissheit hatte, darauf werde ich später noch eingehen.

Zunächst aber: Ich war bei Weitem nicht der Einzige, der sich mit dem (endgültigen) Tod des Lord Commanders nicht so recht abfinden wollte. Gefühlte Sekunden nach dem Ende der fünften Staffel, in deren letzter Szene Jon Snow von den Brüdern der Nachtwache ermordet wird, fing die Gerüchteküche im Netz zu brodeln an: Stirbt Jon Snow wirklich? Wird er auf wundersame Weise doch noch in letzter Sekunde gerettet? Oder auf noch wundersamere Weise wiederbelebt?

Auf das erste Raunen der Erleichterung am vergangenen Sonntagabend folgte daher ein Chor fröhlich-indignierter „Hab ich´s doch gleich gewusst!“-Stimmen.

Eine Vielzahl von Artikeln hat seitdem im bisherigen Verlauf der Serie (und auch der Bücher) Hinweise darauf gesammelt, dass und wie Jon Snow doch nicht sterben wird. Unter anderem wurde darauf verwiesen, dass bereits Thoros von Myr, wie Melisandre ebenfalls Anhänger des „Lord of Light“ Rhollor, Beric Dondarrion mehrmals von den Toten zurückgeholt hat. Ebenso wurde ein mögliches Weiterleben Jon Snows mit seinem Schattenwolf Ghost in Verbindung gebracht, in dessen Körper sein Geist wandern kann. Dass Ghost nach dem (vorübergehenden) Ableben Jons wohlauf und an seiner Seite ist, gehört zu den Indizien, die auch mich darin bestärkt haben, dass die Geschichte Jon Snows noch weitergehen wird. Aber wie gesagt, dazu komme ich später noch.

Auch ist einiges dazu geschrieben worden, warum Jon Snow nicht (oder nicht dauerhaft) tot sein KANN. Kurz gesagt: weil er schlicht zu wichtig für die Gesamtstory ist.

In diesem Zusammenhang hat besonders ein Bild von sich reden gemacht: das Bild des toten Jon Snow, aufgebahrt auf einem dunklen Tisch, nur mit einem Lendentuch bekleidet, den Oberkörper entblößt und mit den Wundmalen der Schwertstöße übersät, das Gesicht umrahmt vom dunklen Bart und dunklen, langen Haaren. Hier wird überdeutlich die Darstellung des Leichnams Jesu Christi, wie wir sie aus zahlreichen Bildern kennen, evoziert, ach was sage ich: sie wird einem regelrecht um die Ohren gehauen. Niemand, der Augen hat zu sehen, kommt an diesem Vergleich vorbei – ist Jon Snow also der Messias von Westeros, der Retter und Erlöser?

Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, lässt sich nicht übersehen, dass George R.R. Martin gewisse Parallelen zwischen der Geschichte Christi und derjenigen Jon Snows auffährt:

Wie Jesus wächst auch Jon sozusagen als unehelicher Sohn auf. (Wessen Sohn eigentlich? Auch das ist eine spannende Frage, die die Vorstellungskraft der Leser*innen und Zuschauer*innen auf das Blühendste anregt – nicht zuletzt, weil in ihrer Antwort ein bedeutender Schlüssel der Fantasy-Saga vermutet wird…)

Wie Jesus legt er alle Ambitionen auf Selbstverwirklichung und irdisches Glück ab, verschreibt sich stattdessen früh einer weit über seine eigene Person hinausgehenden Mission: Als Bruder der Nachtwache schwört er, Zeit seines Lebens auf Land, Besitz und Familie zu verzichten; fortan wird er sein Leben auf der Mauer ganz dem Schutz der „realms of men“ widmen.

Er lebt mit den Sündern und Geächteten – denn nichts anderes sind die Brüder der Nachtwache – und wendet sich selbst noch den von den Geächteten Geächteten, den Wildlingen, zu. In der Eiswüste jenseits der Mauer wird er gleich doppelt in Versuchung geführt: 1. die Versuchung, wie Mance Rayder mit der Nachtwache und seiner Aufgabe zu brechen, indem er ganz zu den Wildlingen überläuft — eine Versuchung, der er widersteht; 2. die von Ygritte verkörperte Versuchung des weiblichen Geschlechts, der er sympathischerweise erliegt.

Allen Bedenken zum Trotz entscheidet er sich, die von den meisten seiner Brüder für groben Abschaum gehaltenen Wildlinge zu retten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Nachtwache öffnet er ihnen, dem jahrtausendealten Feind, die Tore der Mauer.

Seine Barmherzigkeit mit dem vermeintlichen Feind soll ihm schließlich zum Verhängnis werden. Ihretwegen wird er von seinem eigenen Squire, dem Jungen Olli, verraten und ausgeliefert an die Männer der Wache, die ihn wiederum als Verräter anklagen und ihr blutiges Urteil an ihm vollstrecken. Er stirbt. Doch als seine wenigen Freunde schon fast nicht mehr daran glauben, erwacht er wie Christus von den Toten zu neuem Leben.
Es ist stark davon auszugehen, dass auf den auferstandenen Jon Snow die in der Folge „Home“ mehrmals von den Ironborn gesprochenen Worte zutreffen werden: „What is dead may never die, but will rise again, harder and stronger.“

Jon ist ein Grenzgänger zwischen den Welten – mehr noch, er ist jemand, der bisher bestehende Grenzen infrage stellt.
Er ist Mittler zwischen den Menschen diesseits und jenseits der Mauer, der herausstellt, dass es sich eben auch bei Letzteren um Menschen handelt. („Sind die Wildlinge nicht auch Menschen?“ antwortet er im Buch auf den Einwand, dass er doch daran denken müsse, die Menschen zu retten.) Die Mauer ist seit jeher die äußerste Grenze des Reiches. Jon Snow hebt sie zwar nicht auf. Aber er erneuert die Bedeutung dessen, was diese Grenze definiert: Stellte die Mauer bisher die Trennlinie zwischen dem zivilisierten Reich und den Wildlingen, oder aus deren Perspektive gesehen: zwischen den „kneelers“ und dem „free folk“ dar, trennt sie nun die Menschen von der unmenschlichen Bedrohung der Others.

Auch die Standesgrenzen verwischen in der Person Jon Snows, der als Bastard des Königs von Winterfell weder einfach nur baseborn noch, wie seine Geschwister unter den Starks, genuin highborn ist.
Man könnte also sagen, dass es eine für diesen Charakter schlüssige, wenn auch bis zum Äußersten gesteigerte Fortentwicklung ist, dass er nun auch die ultimative Grenze des Todes überwindet.

Last but not least ist Jon Snow natürlich noch in einer weiteren Hinsicht Grenzgänger: Als Warg bzw. „Skinchanger“ kann sein Geist in den Körper seines Schattenwolfes „Ghost“ schlüpfen. Auch seine Geschwister Bran und Arya besitzen diese Fähigkeit, wobei sie sich bei Arya in den Büchern viel deutlicher zeigt als in der Serie.
Dass es sich bei den Schattenwölfen der Starks um weit mehr als nur um ungewöhnliche Haustiere handelt, steht außer Frage. Die Wölfe sind wie tierische Zwillingsgeschöpfe ihrer Menschen, Erweiterung ihrer Körper, Spiegel ihrer Seelen.

Und damit komme ich auch zu dem Grund, weswegen ich mir ziemlich buchstäblich von Anfang an sicher war, dass Jon Snow eine immens wichtige Rolle spielen wird. Viel zu wichtig, um von Martin wie so viele andere Figuren en passant niedergemetztelt zu werden:

Band 1 von „A Song of Ice and Fire“ beginnt mit einem Ausritt Ned Starks und seiner Kinder, darunter neben den „trueborn children“ auch sein Bastard Jon Snow und sein Schützling Theon Greyjoy. Auf diesem Ausritt finden sie eine grausam getötete Schattenwölfin, die wohl noch kurz vor (oder doch bereits nach?) ihrem Tod fünf Welpen geboren hat, drei männliche und zwei weibliche.
Diese Zahl ebenso wie die Geschlechterverteilung entspricht genau den fünf „trueborn children“ Starks. Als die Kinder alle einen Wolfswelpen für sich haben wollen, verzichtet Jon freiwillig, mit eben dieser Begründung Ned Stark gegenüber:
„You have five trueborn children […] Three sons, two daughters. The direwolf is the sigil of your House. Your children were meant to have these pups, my lord.“ Und auf dessen Frage, ob er denn nicht auch einen Welpen haben wolle, antwortet Jon: „The direwolf graces the banners of House Stark […] I am no Stark, Father.“
Als die Reitgesellschaft schon zurück nach Winterfell aufbricht, hört Jon einen Laut, woraufhin er umkehrt. Völlig unerwartet findet er noch einen weiteren Wolfswelpen, einen Albino mit weißem Fell und roten Augen: „He must have crawled away from the others, Jon said. – Or been driven away, their father said, looking at the sixth pup. […] Bran thought it curious that this pup alone would have openend his eyes while the others were still blind.“

In diesen Eingangsszenen steckt bereits so viel von dem, was noch kommen wird: Jon Snow wird in einem Augenblick eminent in Erscheinung treten, in dem niemand mehr mit ihm rechnet. Und er wird sich als einer der Starks erweisen, denn auch wenn er auf den ersten Blick völlig anders aussehen mag als die anderen, „regulär“ grauen Schattenwölfe, ist er doch klarerweise einer von ihnen. Einer von ihnen und doch nicht ganz zugehörig, von den anderen abgesondert und etwas sehr Besonderes.
Wie hieß es noch mal sinngemäß, im Anfang eines Romans ist der ganze Roman bereits im Kern enthalten? Gerade auch weil diese Szenen zu Beginn spielen, bin ich sicher, dass sie vorausdeutend-bedeutsam gelesen werden sollten.

Aber halt…. Sagte ich, das passiert am Anfang? Ja, das Beschriebene geschieht ziemlich zu Beginn des Romans bzw. der Serie –aber der allererste Anfang ist noch ein anderer: Alles beginnt im eisigen Ödland nördlich der Mauer, wo die „Others“ ihre mehr als furchterregenden Schatten vorauswerfen. Dass sich Schattenwölfe in der oben geschilderten Szene so weit südlich der Mauer, in der Nähe Winterfells, überhaupt blicken lassen, wird ebenfalls auf etwas Unheimliches zurückgeführt: „It is a sign.“

Auch hier nehme ich an, dass die Others nicht zufällig an den Beginn der Bücher/der Serie gesetzt wurden, und ebenso wenig aus Effekthascherei, um halt mal ein paar Zombies durch´s Bild laufen zu lassen.
Die HBO-Serie trägt, wie der erste Band der Fantasy-Reihe, den Titel „Game of Thrones“, und es hat zunächst ganz den Anschein, dass es eben darum geht: um dieses raffinierte politische Strategiespiel oft überraschender Züge, das unter Einsatz des Lebens gespielt wird. Und doch, dessen bin ich mir sicher, ist es eben nur ein Spiel. Ich gehe davon aus, dass sich als wirklich entscheidend ein gänzlich anderer Kampf erweisen wird, einer, in dem Jon Snow sich sozusagen an vorderster Front befinden wird oder vielmehr schon befindet.

Innerhalb des Macht- und Ränkespiels um den Eisernen Thron mag es so aussehen als sei Jon Snow so weit weg von jeglichem relevantem Geschehen wie nur irgend möglich. Auf der Mauer, das ist von Westeros und Essos aus betrachtet buchstäblich am Ende der Welt. Anders erscheinen die Dinge jedoch, wenn man die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass die eigentliche Gefahr für das Reich nicht von den vielen selbstproklamierten Königen, nicht vom High Sparrow oder irgendjemand anderem innerhalb der Reichsgrenzen ausgeht, sondern von den Others nördlich der Mauer. In diesem Fall ist Jon Snow genau dort, wo die wichtigste aller Schlachten ausgefochten werden wird.

Ich habe die Vermutung, dass es dieser Punkt ist, vor dem Jon Snow – wie Ghost im Unterschied zu den übrigen Schattenwolfwelpen – seine Augen geöffnet hat, während die anderen noch blind vor sich hindämmern. Er allein sieht mit letzter Konsequenz, dass die Others die eigentliche Bedrohung darstellen. Eine so große Bedrohung, dass in ihrem Angesicht selbst uralte Gräben wie die zwischen den „Krähen“ der Nachtwache und den Wildlingen nichtig erscheinen, sodass sie dringend überbrückt werden müssen.

Jon Snows Stellung als Lord Commander an der Mauer lässt mich demnach ebenfalls auf seine herausragende Rolle für die weitere Geschichte schließen.

Lord Commander Snow, als Märtyrer im Dienste der „realms of men“ gestorben und wiederauferstanden.
[Ob der Name seines Seelentieres Ghost auch von daher quasi-prophetisch sprechend wird, weil der Wiedererweckte gewissermaßen sein eigener Geist ist? Ich denke überhaupt, dass in den Namen der Schattenwölfe im Keim die Geschichte ihrer Menschen steckt. So verweist „Summer“, der Name von Brans Wolf, sicher nicht nur retrospektiv auf die Sommerzeit, in der er gefunden wurde, sondern ebenso vorausdeutend auf den kommenden Sommer, zu dessen Wiederkehr Bran definitiv entscheidend beitragen wird.]
Jon, der verkannte und doch am Ende rettende Messias. Das alles passt recht trefflich.

Im Unterschied zur Rolle als Märtyrer und Messias, den er für mich sehr schlüssig repräsentiert, kann ich ihn mir allerdings nur schwer als König und Herrscher vorstellen. Ich sehe ihn nicht auf dem Eisernen Thron.

Wie viele andere auch begreife ich den Titel „A Song of Ice and Fire“ als Clue zur Auflösung der Saga. Ich habe es immer so aufgefasst, dass diese Extreme zur Rettung der Welt von Game of Thrones ganz klassisch zusammenfinden müssen – und dass sie sich auf zwei Personen verteilen, wobei Jon Snow den „Ice“-Part verkörpert. Für wen das Feuer steht, fällt euch sicher nicht schwer zu erraten; da kann es nur eine geben: Daenerys Targaryen.

Ich habe mir die ganze Zeit gedacht, dass die gute Melisandre sich in ihren flammenden Visionen nicht komplett geirrt, sondern lediglich ungenau geguckt hat. Dass der notorisch uncharismatische Stannis Baratheon mit seinen herzlos-hölzernen Vorstellungen von Gerechtigkeit garantiert nicht der Heilsbringer sein wird – für diese Einsicht braucht es nun wirklich keine magischen Kräfte. So habe ich angenommen, dass die Bilder im Feuer sowie der rote Kometenschweif am Himmel nicht von dessen Sieg, sondern vom Aufstieg Daenerys´ und der Wiederkehr der Drachen künden.

Spätestens seit dem Trailer zur fünften Staffel bin ich der festen Überzeugung, dass es sich beim zukünftigen König von Westeros um eine Königin handeln wird. Obwohl man den Posten als Lord Commander sicher nicht als Job für Weicheier bezeichnen kann, finde ich Jon Snow dennoch im Kern irgendwie, tja, zu soft für den schneidenden Schleudersitz des Eisernen Throns. Versteht mich nicht falsch, es geht nicht um mangelnde Befähigung oder fehlenden Mut, eher darum, dass die Rolle auch zur charakterlichen Färbung der Person passen muss. Und da sehe ich eben diese ganz spezifische Haltung, dieses je ne sais quoi der geborenen Herrscherin deutlich ausgeprägter in Daenerys. Was witzigerweise ein bisschen genderbendy ist und mir auch deswegen gefällt. Wer war das doch gleich, der in den Büchern sagt: „It´s the women who are really the strong ones.“?

By the way: George R.R. Martin einen Feministen zu nennen, würde wahrscheinlich zu weit gehen. Aber ich danke ihm hiermit sehr herzlich dafür, einige der interessantesten, nicht stereotypen Frauenfiguren geschaffen zu haben, die mir im sog. Mainstream begegnet sind. Ich denke da neben Daenerys z.B. an Arya Stark, Brienne von Tarth oder Asha Greyjoy. Überhaupt, ohne meinen männlichen Geschlechtsgenossen und damit ja auch mir selbst in den Rücken fallen zu wollen: Wenn wir mal ehrlich sind, gibt es männliche Helden wie Sand am Meer, das ist doch fast schon langweilig. Neue HeldINNEN braucht die Welt! Ich hoffe deswegen total inständig, dass Daenerys ihre Worte für das gesamte GOT-Universum wahr werden lässt: „I will do as queens do – I will rule!“

Im Zuge dieser Überlegungen habe ich mir außerdem vorgestellt, dass Daenerys irgendwie, irgendwann mit ihren Drachen angeflogen kommt und Jon im Kampf gegen die Others zu Hilfe eilt. Schon verdächtig, dass die einzige effektive Waffe gegen diese Untoten Dragonglass heißt, oder?

In letzter Zeit fühle ich mich in meiner Daenerys-Hypothese zugegebenermaßen etwas verunsichert. Nicht, weil sie dem momentanen Stand nach auf Umwegen irrt. Das sorgt mich null, oder meint ihr, die Mother of Dragons wird sich gehorsam nach Vaes Dothrak verschleppen lassen und dort bis ans Ende ihrer Tage still vor sich hinvegetieren?

Zum Nachdenken bringt mich da eher ein hartnäckig kursierendes Gerücht über die Herkunft Jon Snows. Man munkelt, er sei möglicherweise nicht der Sohn Eddard, sondern Lyanna Starks und sein Vater Rhaegar Targaryen. Somit würde in seinen Adern nicht nur das Blut des Nordens, sondern auch das der Drachen fließen; nicht zuletzt hätte er als Sohn Rhaegars sogar einen rechtmäßigen Anspruch auf den Eisernen Thron.

Wenn Lyanna Stark tatsächlich die bislang unbekannte Mutter Jons wäre, würde das auch plausibel erklären, warum sie nun in Brans Visionen von der Kindheit Ned Starks aus dem Hut gezaubert wird.

Generell scheint mir die Annahme, Jon Snow sei das Kind Lyanna Starks und Rhaegar Targaryens, nicht unschlüssig. Keine andere Figur verbindet in solchem Maße Gegensätze wie er, keine andere Figur führt so wie er Getrenntes zusammen… Wer könnte also besser als er Norden und Süden, Eis und Feuer in sich vereinen?

Vielleicht spiegelt sich auch dieses noch verborgene Schicksal seines Menschen in Ghost, dem Schattenwolf? Womöglich verdeutlicht die Farbe, die Fell und Augen des Albino-Wolfs tragen, nicht nur dessen und Jons Status als Sonderling. Ich habe in Ghosts weißem Fell und roten Augen bisher eine Verbindung zu den alten Göttern in den Weirwood Trees gesehen, die just diese Farben haben. Doch es drängt sich jetzt natürlich auf, in den Farben des Seelentiers Ghost noch eine andere, die R+L=J-Hypothese bestätigende Symbolik zu erkennen.

Weiß wie der Schnee, den Jon als Namen trägt, weiß wie die Mauer und der Hintergrund des Wappens, das den Schattenwolf von House Stark hervortreten lässt – rot wie die Flammen des Lord of Light, dem die „Red Woman“ Melisandre dient, rot wie der Drache im Wappen der Targaryens.
Weißes Eis, rotes Feuer.

Einiges spricht dafür, dass doch Jon Snow der „Azor Ahai“ ist, den Melisandre verheißen hat. Ist er nicht „nur“ eine Messias-Figur, sondern auch ein ernsthafter, ja DER Anwärter auf den Eisernen Thron?

Wir werden sehen…

Unabhängig davon, ob manche Spekulationen sich bewahrheiten werden oder nicht: Wir dürfen mehr als gespannt sein, wie es heute Abend und in den kommenden Wochen mit Game of Thrones weitergehen wird!