Vorher – Nachher

Seid ihr heute auch schon in den Social Media eures Vertrauens über etwaige fotografische Wandlungs-Zeugnisse gestolpert, a.k.a. Vorher-Nachher-Bilder? Wenn nicht, muss heute ein besonderer Tag sein. Oder bekomme nur ich so viele davon zu Gesicht?

Was diese Bilder uns vor Augen führen, ist dabei stets das Gleiche: Auf der linken Vorher-Seite sehen wir einen übergewichtigen oder auch nur nicht 100% gertenschlanken Menschen – die rechte Nachher-Seite lässt uns selbigen sämtlicher „überflüssigen“ Pfunde entledigt entgegenstrahlen. Ist der Mensch ein Mann, gibt es auch die Variante „vorher spindeldürr – hinterher Blockbuster-heldenhaft muskulös“.
Mit anderen Worten: Diese Bildungsromane in Foto-Form schildern uns die Reise von einem nicht ganz so idealen zu einem den gängigen Schönheitsnormen entsprechenden Körper.

Vor nicht allzu langer Zeit entdeckte ich bei Facebook ein Vorher-Nachher-Bild, das gegen dieses wohlbekannte Muster bewusst verstoßen hat. Es zeigte vorher eine dicke Frau – und nachher ebenfalls eine dicke Frau. Es hatte sich nichts oder nicht viel verändert, jedenfalls nicht sichtbar.

Im ersten Moment hielt ich das für eine witzige Idee. Je öfter ich nun daran denke, und das kommt immer wieder einmal vor, desto genialer finde ich die Aktion.

Ich gestehe: auch ich tue momentan einiges für mehr Muckis, mehr Kondition und weniger Fett. Insofern will ich überhaupt nicht gegen einen gewissen Fitness-Ehrgeiz unken. Auch mit einer moderaten Dosis Oberflächlichkeit und Narzissmus kann ich prima leben. Ich kann mir ohne Weiteres vorstellen, selbst irgendwann stolz meine körperlichen Veränderungen im Bild festzuhalten und zu teilen. Was mich stört oder zumindest stutzig macht, muss also irgendetwas anderes sein.

Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass die Aussage hinter Vorher-Nachher-Bildern oft eben nicht einfach lautet: „Liebe Leute, hiermit teile ich euch mit, dass ich mich durch Training und eine veränderte Ernährung der herrschenden Körpernorm angenähert habe.“ Oder meinetwegen auch: „Ey geil, ich seh jetzt „besser“ aus!“ Vielmehr wird damit behauptet, dass die betreffende Person dank Training und veränderter Ernährung ein wesentlich besseres Leben führt, ja geradezu ein besserer Mensch geworden ist.
Was unter Umständen dann auch die Message impliziert, dass sportlich, ernährungstechnisch und körperformmäßig „Andersgläubige“ zu den schlechteren Menschen zählen: „Ihr „Fetten“ da draußen bringt´s halt einfach nicht, ihr seid faul, ohne Selbstdisziplin und zurecht unglücklich!“

Ich finde, dem armen Sport wird ein bisschen zu viel Heilserwartung zugemutet. Manche von uns pilgern ins Studio wie andere Menschen auf dem Jakobsweg oder nach Mekka. Fitness ist kein allmächtiger Gott, der jegliches Unheil von denen abhält, die ihn möglichst fromm verehren. Gesund sterben ist nicht der Sinn des Lebens.

Das Traurigste, was ich jemals über Sport gehört habe, ist, dass er anti-depressiv wirkt. Ich weiß nicht, ob ihr nachvollziehen könnt, was ich meine. Mir ist diese Perspektive unheimlich, in der alles zur Flucht vor der scheinbar überall lauernden Krankheit gerät, genauso wie quasi-religiöser Eifer. Oder Sport als selbstverordnetes Erziehungsprogramm zur maximalen Leistungsfähigkeit. Wann ist Gehorsam eigentlich so hip geworden?

Wie wäre es stattdessen mit: Sport macht Spaß. Bewegung tut gut. Wenn wir schon tagsüber stundenlang wie festgenagelt auf dem Bürostuhl sitzen müssen, sollten wir wenigstens nach Feierabend die Gelegenheit nutzen, uns richtig austoben zu dürfen. Und bei all den faden Alltagsroutinen nicht die Chance verpassen, einmal unsere (physischen) Grenzen zu erproben. Wär jetzt so mein Gegenvorschlag zur Galeeren-Sichtweise.

Wie ihr merkt, halte ich sportlich (und warum auch nicht, schlank) sein bzw. werden für ein cooles Ziel. Aber es ist nicht das einzige Ziel, nicht das wichtigste im Leben – und ganz sicher kein Glücksgarant.

Manchmal träume ich daher heimlich von einer Flut von Vorher-Nachher-Bildern der etwas anderen Art, die über die diversen Netzwerke schwappt. Bilder, die uns auf einen Blick alternative Entwicklungs-Stories hin zum Glück vermitteln und so die üblichen Fotos mit ihren impliziten Botschaften relativieren.

Wie sich das konkret gestaltet, könnte natürlich stark variieren.

Ich könnte mir z.B. Schnappschüsse vorstellen, die auf der Nachher-Seite jemanden sich stolz zeigen lassen, der oder die sich gemessen an den gängigen Idealen eher nachteilig entwickelt hat, etwa dicker geworden ist oder faltiger oder weniger geschlechtskonform. Der oder die sich aber so viel wohler in seiner oder ihrer Haut fühlt. Womöglich weil die betreffende Person den Druck losgeworden ist, an diesem ganzen Schönheits-Zirkus in seiner verbreiteten Definition partizipieren zu müssen.

Vielleicht hat der gezeigte Mensch aber auch nicht seine Physis, sondern seinen Look, seine Klamotte, Schminke, seinen Stil verändert. Und dadurch eine Möglichkeit gefunden, die eigene Persönlichkeit treffender nach außen hin sichtbar zu machen.

Oder es ist eher der Ausdruck, die Haltung, die anders geworden sind.

Überhaupt: vielleicht könnten wir mehr Menschen vertragen, die einfach anders, nicht unbedingt „besser“ geworden sind.
Sich selbst im Laufe der Zeit anders ausbuchstabieren, neu entdecken, statt sich permanent optimieren müssen. Sich selbst auch einmal überraschen mit dem, was man bisher noch nicht war, aber möglicherweise auch ist. Auch mal abweichen, vom bisherigen Ich, von der Massentauglichkeit. Statt sich zu einem einzig „authentischen“ Selbst zu bekehren, das komischerweise bei sämtlichen Menschen eine verdächtige Ähnlichkeit mit He-Man (oder She-Ra) und die Leistungsmentalität eines Duracell-Häschens hat.

Es gäbe sicher viele tolle Vorher-Nachher-Ideen. Habt ihr noch mehr?

Sehr gut vorstellbar wären auch Nachher-Fotos, deren Optik sich nicht oder kaum von den Vorher-Fotos unterscheidet, wie bei der Dame, die mich zu diesen Gedanken angeregt hat.
Weil eben selbst in unserer reich bebilderten Zeit die tiefgreifendsten Veränderungen nicht unbedingt am Aussehen hängen.