Zähneknirschend

Neulich bei der Zahnärztin.
Ich statte ihr einen Besuch ab, weil ich etwas brauche, was weder vom Wort noch von der Sache her besonders sexy ist: eine sogenannte Beißerschiene. Aber es nützt nichts, laut Zeugenaussagen ist mein Geknirsche des Nächtens nämlich infernalisch.

Ich bin dann doch überrascht, dass sie offenbar völlig unbesorgt fragt, ob ich so was wirklich zu brauchen meine. Schließlich sei das mit dem nächtlichen Zähneknirschen „eine regelrechte Volkskrankheit“, das würde mindestens jede*r Zweite machen. „Der Stress halt!“, flötet sie noch so heiter daher, dass ich mich nicht wundern würde, wenn sie gleich anfängt zu singen und zu tanzen.

Fest steht: Wir sind ein Volk von Gestressten. Das scheint ihrer Reaktion nach zu urteilen ein fun fact zu sein.
Wenn ich einmal darüber nachdenke, enthält nahezu jede Antwort auf die „Wie geht´s dir?“-Frage irgendwas mit „Stress“: „Wie geht´s dir?“ – „Ach danke, ganz gut, bin nur ziemlich im Stress gerade.“ Ungefähr so. Das ist so sehr die Regel, dass es fast seltsam wirkte, wenn jemand behaupten würde, stressfrei zu sein. Getreu dem Motto, „Wem die innere Ruhe nicht fehlt, dem fehlt doch was.“

Stressbefreitheit ist natürlich umso verdächtiger als einen der Stress unter praktisch allen Lebensumständen plagen kann.
Betroffen sind ja nicht nur diejenigen, die dem Leistungsideal unserer Gesellschaft entsprechend permanent rennen und ackern. Auch der Alltag eines Arbeitslosen kann zu krassen inneren Unruhezuständen führen – und das meine ich jetzt nicht ironisch. Dem Leistungsdrill nicht Folge zu leisten, die unterstellte Faulheit und Nutzlosigkeit im Selbstbild zu verinnerlichen, das muss immens stressig sein. Nicht nur tausend Termine in der Agenda können einen Menschen erbarmungslos durch den Tag hetzen, auch eine Heerschar von „eigentlichs“, „ich müsste dochs…“ oder „ich sollte“ im Kopf.

So weit, so semi-gut.
Aber sagt die Sache mit dem Zähneknirschen vielleicht noch mehr aus

Wir reden sprichwörtlich davon, dass jemand etwas „zähneknirschend tut“, oder auch „zähneknirschend hinnimmt“. Damit meinen wir, dass er oder sie etwas nur widerwillig macht oder über sich ergehen lässt.
Der Widerwille ist zwar da, wird aber nicht geäußert, zumindest nicht offen und direkt. Statt laut zu sagen: „Ich will das nicht.“ wird geschwiegen und die Zähne zusammengebissen. Aber weil der Unmut wohl doch nicht komplett unterdrückt werden kann, wird er eben so unauffällig wie möglich ausgedrückt. So kommt es zum Knirschen.

Nun möchten wir normalerweise unsere Unlust oder unser Unbehagen vor einem Gegenüber verbergen. Es ist die Chefin, der Freund, die Eltern, jedenfalls: irgendjemand anderes, dem oder der gegenüber wir latent grummelig sind, weil wir auf irgendetwas keinen Bock haben – und es dann doch tun –, was sie von uns verlangen.

 

Das allnächtliche Geknirsche steigert die Heimlichtuerei aber noch um eine Stufe: Denn in diesem Fall verstecken wir unser Zähneknirschen noch vor uns selbst.
Irgendwie muss es ja raus, es soll halt bloß keiner mitbekommen. Am wenigsten man selbst.
In meinem Fall ist mir das Versteckspiel auch wunderbar gelungen. Wäre ich nicht charmant darauf hingewiesen worden, wüsste ich bestimmt noch immer nicht, was ich nachts gebisstechnisch so treibe. Auch wenn die Kieferschmerzen am Morgen mich hätten Verdacht schöpfen lassen können.

Streng genommen geht es allerdings noch einen entscheidenden Schritt weiter: Ich wusste nicht nur nichts von diesem Symptom – ich hatte auch kein richtiges Bewusstsein des zugrundeliegenden Widerwillens.

Ich scheine mit so manchem in meinem Leben nicht hundert pro einverstanden zu sein. Eventuell lasse ich mich zu Dingen hinreißen, die ich im Grunde nicht möchte, oder verwirkliche umgekehrt nicht alles, was ich wollen würde.
Wenn mir aber jemand sagen würde: „Du lebst nicht das Leben, das du willst.“, wäre ich ziemlich empört. Wenn er oder sie dann noch mit so etwas ankäme wie „Sprich deinen Unmut offen aus, lehne dich gegen die Zwänge, den Druck, die unnötigen Einschränkungen auf statt doof rumzuknirschen!“, wäre ich endgültig verdattert. Ich wüsste gar nicht so recht, was der oder die jetzt von mir will.

 

Ich nehme einmal an, dass das Knirschen mit Zwängen, Druck und unnötigen Einschränkungen zusammenhängt. Bei mir und all den anderen Zahnzerstörer*innen da draußen. Ich habe da so eine vage Ahnung.
Nur: Wer oder was zwingt mich bloß, und wozu? Wer oder was weist mich in meine Schranken?
Mir hält ja niemand ein Gewehr an die Schläfe und befiehlt mir, was ich zu tun und zu lassen habe. Kein Polizist oder Soldat kontrolliert mit strengem Blick, ob ich mich auch an die verordneten Lebensregeln und Gesetze halte. Zumindest kein offizieller, uniformierter. Wer oder was auch immer mich an irgendetwas hindert, ist nicht wirklich greifbar. Wen sollte ich also anknirschen oder gar anschreien?!

Prinzipiell bin ich, wie wir alle, geradezu schwindelerregend frei. Ich konnte schon Dinge in meinem Leben wählen, von denen ich vorher niemals gedacht hätte, dass ich da auch nur im Entferntesten ein Wörtchen mitzureden hätte. Und wenn mir etwas nicht passt, gibt es nahezu nichts, was ich nicht auch anders machen könnte. Wenn ich denn wollte.

Ich kann da jetzt nur mutmaßen. Aber: Ich glaube, mit diesem Wollen ist möglicherweise was faul. Ganz sicher aber ist es eine sehr, sehr verwirrende Angelegenheit.
Nicht halb so einfach, wie das klingt: tun, was man wirklich tief im Innern will, auf die eigene Stimme hören statt auf die der anderen… Aber genau darin besteht doch die Krux. Kann man das so genau auseinanderhalten?

Woher weiß ich denn, was ich „wirklich“ will und was ich mir „nur einrede“ zu wollen? Was ist mit den Bildern von Glück und Erfolg um mich herum, die ich verinnerlicht habe? Ist das, was ich verinnerlicht habe, nicht offensichtlich auch „tief in meinem Inneren“, ergo ein Teil von mir und wirklich ich? Bilde ich mich mit meinen eigenen Wünschen nicht in der Auseinandersetzung mit meiner Umwelt heraus? Müsste ich jetzt zwischen einem bloß verinnerlichten und einem authentisch inneren Inneren unterscheiden?!?

Ich hege ein starkes Misstrauen gegenüber diesen ganzen (Selbst-)Bekehrungen hin zum „wahren Ich“ und „richtigen Leben“. Das ist doch auch nur eine doofe Marketing-Strategie von Leuten, die ihre Meditations-Seminare und biofeedback-Coachings auf dem Weg zur Entschleunigung verkaufen wollen. Nachdem mir andere Leute ihre „höher, schneller, weiter“-Strategien und ihr Hypereffizienz anstrebendes Zeitmanagement verkaufen wollten.

„Die Gesellschaft hat mir diese schnöden Wünsche und dieses konformistische Ich eingeflüstert, aber eigentlich, ja in Wahrheit bin ich ganz anders, will etwas komplett Anderes.“ Solche Sätze kommen mir verständlich und doch verkehrt vor.
„Ich wurde von außen dazu gebracht, dies zu wollen, ABER in Wirklichkeit will ich jenes.“ Nee Leute, so einfach ist das doch nicht. Alles viel komplizierter, wenn man mal ehrlich ist. Ein regelrecht verzwurzeltes Gewurstel.
Eher so: Ich will dies, ganz in echt. UND auch jenes, was möglicherweise im Widerspruch zu diesem steht. Oder zu stehen scheint. Unter Umständen will ich dies sogar, UND will es auch nicht. Oder zumindest nicht zu diesem Preis.

Womöglich fristen manche Wünsche, die man eben auch hat, in unserem wachen Alltag im Vergleich zu anderen Wünschen eher ein Schattendasein. Vielleicht sind das diejenigen, die man entgegen dem ständigen „anything goes“-Getöse unserer Zeit nur schwer für sich selbst zulassen kann, oder die bei unseren Mitmenschen auf weniger wohlwollendes Verständnis treffen würden als manch andere.
Unter Umständen geht tagsüber so manches „Ich will das nicht.“ unerhört unter, weil wir „das“ eben zugleich doch auch wollen.
Und was nicht an die Oberfläche des Tagesbewusstseins gespült wird, muss dann vielleicht nachts das System UBW hervorholen.

Ergo: Ich und Ich, Sender und Adressat des Zähneknirschens zugleich, Kläger und Angeklagter. Das kafkaeske Tribunal nach innen oder nur-beinahe-außen verlegt, quasi.
Wie gesagt, jemand oder etwas anderes fällt mir nicht ein. Ich allein kann, ja muss es richten. Oder?

 

Nach diesem langen Geschwurbel meinerseits interessiert mich vor allem eure Meinung, liebe Mitknirschende dort draußen!
(Ich weiß, es muss euch in unzähliger Menge geben — Zahnärztinnen lügen nicht!)
Wie ist das bei euch? Wenn ihr einmal in euch geht… Was bringt euch dazu, nachts euer armes unschuldiges Gebiss zu malträtieren?
Was würdet ihr unter anderem auch für euch wollen, wenn ihr es denn einfach so wollen könntet? Was wollt oder macht ihr mit unterschwelligem Widerwillen?
Und was hält euch davon ab, dieses zu tun oder jenes zu lassen?

Ganz ehrlich: Lauern da womöglich doch lauter unoffensichtliche Zwänge, irgendwie irgendwo? Zwänge, die nicht weniger normativ sind, bloß weil sie nicht in greifbarer Gestalt oder als direkt formuliertes Gesetz daherkommen? Oder stecken wir doch mit unseren bequemen Hintern in der flokatiflauschigen Komfortzone fest, von der so oft die Rede ist, und schaffen es nicht, unseren Allerwertesten dort hinauszuhieven?
Was meint ihr?

Freie Fahrt

Viel zu früh am Morgen. Ich sitze im Zug nach München.

Auch wenn ich ebenso großzügig wie treffsicher bereits meinen zweiten Kaffee auf den weißen Partien meines Rucksacks verteile, bin ich doch denkbar weit vom Wachzustand entfernt. Nicht gerade der beste Moment, mich auch nur nach so etwas Simplem wie meinem Befinden zu fragen.
Einmal ganz zu schweigen von komplexeren Fragen wie denen nach meinem Glauben, meinem Zugehörigkeitsgefühl zu dieser oder jener Gruppe oder meinen alltäglichen Lebenspraktiken und was ich damit ausdrücken will (oder auch nicht).

Der jungen Frau hinter mir geht es da ähnlich. Jedenfalls klingt ihre Stimme sehr müde, so als würde sie eine Mütze Schlaf jedem Gespräch vorziehen. Aber leider wird das nichts mit dem Schlafen, denn sie hat einen entscheidenden „Fehler“ gemacht: Sie trägt ein Kopftuch.
Und so wird die junge Frau von einer nicht mehr ganz so jungen Frau ausführlich dazu befragt, was es denn so mit „ihrer Kultur“ auf sich habe, mit dem Kopftuch, dem muslimischen Glauben, den Gepflogenheiten ihrer „Landsleute“. (Ob die nicht mehr ganz so junge Frau sich dessen bewusst ist, dass es ziemlich viele Länder gibt, in denen Muslime leben und Kopftücher getragen werden? Deutschland z.B.?)
Die Fragende versichert in jedem dritten Satz, wie „total interessiert“ sie ist und wie froh, endlich einmal jemandem direkt ihre vielen Fragen stellen zu können. Ihre unfreiwillige Interviewpartnerin ist bestimmt etwas weniger froh darüber, antwortet aber tapfer, geduldig und freundlich. Auch der anderen Dame könnte man keineswegs vorwerfen, dass sie nicht nett und freundlich wäre. Summa summarum: ein freundliches Zuggespräch, initiiert von jemandem, die es bestimmt nicht böse meint, sondern wahrscheinlich einfach Dinge verstehen will, die ihr bislang eher fremd waren.

Ich habe daher nicht die Absicht, über besagte Dame bzw. deren Verhalten zu meckern. Vielleicht habe ich aber in diesem Zug-Moment eine kleine Einsicht. Darüber, was dieser ominöse Begriff „Privileg“ konkret bedeuten könnte.

Dazu erst einmal ein kleiner Einschub:
Immer wieder begegnet mir die Rede vom „Privileg“ oder vom „privilegiert-Sein“. Dem Privileg der Weißen gegenüber den Nicht-Weißen beispielsweise. Klar, ich sehe wo der Hase hinläuft, und dass mensch dem kaum widersprechen kann. Dennoch habe ich in der Regel den Impuls, dieses „privilegiert-Sein“ weit von mir zu weisen, und die Tendenz, mich ein wenig beleidigt darüber zu fühlen, dass jemand „Privilegien“ auch nur von fern mit mir in Verbindung bringen könnte. Ich glaube, damit bin ich nicht allein.

Das wiederum dürfte an den Assoziationen liegen, die diese Begriffe wecken:
Bei „privilegierten“ Menschen denken wohl die meisten von uns 1. an eine Art Jet Set-Lifestyle. An Rumlümmeln auf der Yacht bei Saint-Tropez, Abendessen mit Scheichs in Dubai (Verhandlungen über Luxus-Immobilien inklusive), Skifahren in Ischgl auf diamantbesetzten Brettern usw. usf. Und wer hat das schon?! Die Geissens vielleicht.
„Privilegiert“ klingt 2. nach der Art von Leuten, denen immer schon der Goldstaub völlig unverdientermaßen in den Popo geblasen wurde. Nach denen, die niemals haben Kämpfe ausfechten oder sich für irgendetwas anstrengen müssen. Und wer ist schon so jemand oder will als so jemand gesehen werden?! Eben

Aber vielleicht geht es bei „Privilegien“ ja um eine Art von Luxus, der so unscheinbar ist, dass wir ihn gar nicht erst als solchen betrachten?
Ein Luxus, wie ich ihn – im Unterschied zu der Frau mit dem Kopftuch – gerade genieße: Den angenehmen Umstand, einfach mal ungestört von A nach B zu gelangen. Ohne schiefe oder auch nur neugierige Blicke. Ohne doofe Sprüche oder eklige Anmachen. Auch ohne wohlgemeint-interessierte Nachfragen.
Einfach mal ungestört von A nach B fahren. Nicht nur auf Bahnreisen, sondern auch unterwegs zu anderen Zielen, die ich erreichen möchte.

Ungestört sein, das heißt und liegt daran, dass ich niemandem groß auffalle. Oder noch genauer gesagt: dass ich niemandem als „anders“ oder „besonders“ auffalle.
Kein einzelnes Merkmal drängt sich so dermaßen in den Vordergrund, dass es den gesamten Menschen dahinter verschwinden, weil zu einer Art Außerirdischem werden lässt.
Der unbewusste Scan meiner Mitmenschen ergibt in der Regel, dass an mir nichts „verdächtig“ Andersartiges ist. Meine Mitgliedschaft im Club der normalen, ergo für zurechnungsfähig und halbwegs berechenbar gehaltenen Menschen wird daher nicht weiter hinterfragt.
Ich bin eine in diesem Sinne nicht fragwürdige Person, und so lässt man mich prinzipiell problemlos das tun, was Mitglieder des normale-Leute-Clubs eben zu tun pflegen. Arbeiten oder studieren. Wohnungen mieten oder Häuser kaufen. Heiraten und Familie gründen. Alle möglichen Gebäude oder die Toilette meiner Wahl betreten und sämtliche Stockwerke erreichen. Sogar ohne fremde Hilfe. Eine Meinung haben und diese äußern. Sogar mit der echten Chance, Gehör zu finden. Meine Projekte in die Tat umsetzen. Oder auch mal Zug fahren.

Wie gesagt ist das IN DER REGEL für mich so. Je nach Kontext können schließlich schon Kleinigkeiten ausreichen, um eine Ausnahme von dieser Regel zu „provozieren“. Nicht völlig irgendwelchen Körperidealen zu genügen, beispielsweise.

Wie auch schon gesagt laufen die beschriebenen Dinge des Alltags für mich PRINZIPIELL problemlos.
Was keineswegs heißt, dass nicht doch unterwegs Schwierigkeiten und Hindernisse auftauchen können. Wie das ja auch bei der Bahn immer wieder einmal passieren kann: Es kann Verspätungen und verpasste Anschlusszüge geben, oder man kann sich in der allmorgendlichen motorischen Verpeiltheit mit Kaffee bekleckern. Genau so kann jede*r von uns, unabhängig von irgendwelchen Eigenschaften, auf der Arbeit, in der Freizeit, in zwischenmenschlichen Beziehungen Chancen verpassen oder erst gar nicht geboten bekommen. Aus unerfindlichen Gründen ausgebremst werden oder sich selber im Weg stehen.

Ich habe also keineswegs einen absoluten Freifahrtschein für alles, erst recht nicht direkt ins Glück. Aber im Vergleich zu vielen, vielen anderen Menschen genieße ich doch in vielen, vielen Situationen freie Fahrt.

Feine Unterschiede

Da habe ich doch mal wieder was dazu gelernt: nämlich dass die Pfälzer*innen ein offenes, freundliches Völkchen zu sein scheinen.

Zumindest haben sie wohl keine Probleme damit, wenn jemand sich in einem Café oder einer Kneipe zu ihnen setzt. Meine Gesprächspartnerin und ich sind uns einig, dass das ja wohl von Region zu Region unterschiedlich üblich ist. Und dann natürlich nicht nur von Region zu Region, sondern auch von Land zu Land, füge ich hinzu. Das ist in Frankreich noch mal anders als in England oder Mexiko oder Botswana, klar.

 

Schon sitze ich im Fettnäpfchen. Oder auch im Töpfchen der unschuldig Doofen.

Wenn innerhalb Deutschlands die Leute in verschiedenen Regionen unterschiedlich reagieren, dann verhalten sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht sämtliche Menschen überall in Frankreich oder Botswana gleich. Den Gedanken hätte mir allein schon die Logik aufdrängen können. Oder mein Wunsch nach Differenziertheit, den ich durchaus besitze.

 

Dennoch lag meine Reaktion genau so nahe wie dieser logische Schluss, womöglich sogar näher. In solchen Situationen scheint eine andere Logik zu greifen, ein anderer quasi-automatischer (aber vielleicht nicht entautomatisierbarer?!) Denk-Mechanismus:

Der (bewusst) gewünschte differenzierte Blick scheint sich allzu oft nur auf sich selbst, das Bekannte, die Gruppen, zu denen man gehört, zu richten. Das Andere, Unbekannte, Ungewohnte, Ferne scheint diesem Blick (unbewusst) zu etwas Homogenem zu verschwimmen.

 

Das Eigene: eine komplexe 3D-Landschaft, nach außen hin an ihren Grenzen immer weiter ausufernd, in sich immer feiner verästelt und verzweigt. Mindestens so wie Westeros und Essos im Vorspann zu „Game of Thrones“, untermalt von einer heroischen Titelmelodie.

Das Andere: plane Fläche, bestenfalls

Schlimmstenfalls amorphe Masse, die irgendwie – man weiß es nicht so ganz – auf einen zuzuwabern scheint und – auch das kann man nie wissen – dabei eine Bedrohung darstellen könnte. Und wenn es nur eine Bedrohung der eigenen Bequemlichkeit ist, die im höchst einförmigen Plural daherkommt:

Die Flüchtlinge. Die Frauen. Die Veganer. Die Homos. Die Behinderten. Die Muslime.

 

Und dann auch noch diese Fragen, diese nervtötenden Fragen, die sich mir, dir, uns dabei vielleicht stellen… Wollen DIE was von mir? Was wollen DIE denn bloß? Muss ich mich DAMIT jetzt auch noch auseinandersetzen?!?

X-beliebige saure Gurken

So viele Möglichkeiten… Welche werde ich wählen? Und was sagt das über mich als Menschen aus? Werde ich mich als der traditionelle, bodenständige Typ erweisen? Oder bin ich doch eher feurig-passioniert und bereit, das damit verbundene Risiko einzugehen? Gibt es einen Kompromiss zwischen Altbekanntem und neuen Wegen? Sollte ich versuchen, zweigleisig zu fahren?

Es ist Donnerstagabend und der Entscheidungsdruck sitzt mir in den Schläfen. Ich stehe im Supermarkt vor dem Regal mit Gewürzgurken. Gewürzgurken – als ob es so etwas Einfaches noch gäbe! Vor mir reiht sich Glas an Glas zu einem Regalmeterbreiten Potpourri der Größen, Farben, Formen, Herkünfte und Geschmäcker.

Die geerdete Spreewaldgurke schielt verunsichert zu ihrem exotischeren Nachbarn, dem Schlemmertöpfchen mit pikanter Chili-Knoblauch-Note. Süß-sauer kannte ich ja – scharf-sauer ist neu. Oder vielleicht lieber die zierlichen französischen Cornichons? Ganze Gurke oder Scheiben, möglicherweise sandwichfertig gesliced? Mit Schale oder ohne, wie die gelbgrünlich schimmernden Schlesischen Gurkenhappen?

Ich fühle mich leicht überfordert, hin und wieder habe ich einen dieser fröhlich staunenden „Ach!“-Momente. Was es nicht alles gibt! Was man nicht alles haben kann!

Andererseits… Seien wir einmal ehrlich: Im Grunde sind das alles nur Gurken, nichts als saure Gurken. Je nach Perspektive eröffnet sich uns eine Palette ungeahnter Möglichkeiten – oder wird uns dasselbe in grün bloß reizvoll als solche verkauft.

Ich frage mich, ob es mit der Wahl unserer Leben nicht ganz ähnlich ist.

Überall heißt es, sämtliche Zeitschriften, Werbungen, Fernsehsendungen und selbsternannte Berater verkünden es: Alles ist möglich, du kannst alles haben und sein, was du dir nur wünschst! Was auch immer dem modernen Menschen durch den Kopf schießt, kann er auch realisieren, wenn er nur will. Wir haben die uneingeschränkte Wahl zwischen diversesten Lebensentwürfen, und genau darin besteht unsere (mal bejubelte, mal verteufelte) Freiheit.

Aber ist das so?

Ich werde diesen einen Verdacht nicht los: dass unser Repertoire an erstrebenswerten – oder auch nur sozial zulässigen – Lebensweisen recht überschaubar ist. Dass das Rauschen der Vielzahl an Möglichkeiten deren mangelnde Vielfalt übertönt.

Kann ich als mehrfache Mutter so leicht richtig Karriere machen wie als Vater? Oder ohne größere Widerstände als Mann mit meinem Lebenspartner unsere gemeinsame Tochter großziehen?

Kann ich mich problemlos für die Arbeit als Prostituierte entscheiden, so wie ich eine Stelle als Spitzenmanagerin oder Erzieher anstreben kann?

Kann ich dick und glücklich und stolz auf meinen Körper sein?

Kann ich ebenso stolz und freudig jedem von den Partner*innen in meinem polygamen Beziehungsnetz erzählen wie es monogam lebende Heterosexuelle über ihren Partner oder ihre Partnerin tun??

Kann ich ohne Weiteres ein intersexueller Mensch sein, so wie ich ein Mann oder eine Frau sein kann? Kann ich ein Mensch sein, der nicht über sein Geschlecht definiert wird?

Geht alles einfach so, oder geht doch manches „einfach soer“ als vieles, vieles andere?

Kann ich ganz leicht alles tun, was ich will? Und vor allem: Kann ich ganz leicht alles wollen, was ich will?

[Für die Fortgeschrittenen unter den Grübelfüchsen gibt es noch eine Zusatzfrage: Einmal angenommen, wir besäßen tatsächlich diese nahezu totale Uneingeschränktheit und radikale Beliebigkeit der Lebensentwürfe, wie sie in der Legende vom (post-)modernen Menschen besungen wird. Wäre das Freiheit?]