Bücher 2016 für 2017

Ein neues Jahr hat begonnen. Das könnte ich zum Anlass nehmen, auf das gerade erst verabschiedete Jahr, genauer gesagt auf das Bücher-Jahr 2016 zurückzublicken. Ich könnte euch und mich fragen: Welche tollen Romane sind 2016 erschienen und/oder welche Schmöker haben wir in den vergangenen 12 Monaten leidenschaftlich verschlungen?

Stattdessen habe ich mir eine andere Frage überlegt, die auf das letzte Jahr zurückgeht,  aber auch auf das nächste vorausdeutet. Und zwar möchte ich gerne von euch wisssen, welche Bücher 2016 auf eurer to read-Liste gelandet sind. Welche verheißungsvolle Lektüre, die ihr leider noch nicht habt genießen können, wollt ihr 2017 unbedingt nachholen?

Bei mir tendiert die Zahl der verlockenden Schwarten mal wieder gegen unendlich. Eine kleine Auswahl für mich lesenswerten Stoffes möchte ich euch hier präsentieren. Es sind sieben an der Zahl, gut die Hälfte davon 2016 erschienen. Ich stelle sie euch in der alphabetischen Reihenfolge der Autor*innennamen vor, es handelt sich also nicht um eine wertende Rangliste.

 

Junot Díaz: „The Brief Wondrous Life Of Oscar Wao“ bzw. „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“


In besagtem Roman geht es um den titelgebenden Nerd Oscar, der davon träumt, der nächste J.R.R. Tolkien zu werden, seine Schwester Lola und ihre Familie. Auf dieser in New Jersey lebenden Familie mit Dominikanischen Wurzeln lastet ein Fluch, dem Oscar ein Ende machen will… Autor Junot Díaz wurde 2008 der Pulitzer Preis für den „Oscar Wao“ verliehen.

 

Olga Grjasnowa: „Die juristische Unschärfe einer Ehe“

Eine „rasante Dreiecksgeschichte zwischen Berlin und Baku“: „Leyla wollte immer tanzen. Doch nach einem Unfall muss sie das Bolschoi-Theater in Moskau verlassen. Altay ist Psychiater. Nachdem sich seine große Liebe umgebracht hat, lässt er keinen Mann mehr an sich heran. Altay und Leyla führen eine Scheinehe, um ihre Familien ruhigzustellen. Als die beiden mit Mitte zwanzig in Berlin von vorne anfangen, tritt Jonoun in ihr Leben.“ Ich persönlich finde: selbst der Titel klingt in seiner Sperrigkeit sexy.

 

Anna Katharina Hahn: „Das Kleid meiner Mutter“

Ana María erlebt im Madrid des Jahres 2012 die Folgen der Wirtschaftskrise, die Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Nachdem „Anita“ notgedrungen in ihr Zimmer im Haus der Eltern zurückkehrt, findet sie Vater und Mutter eines Tages tot in der Wohnung vor. Die junge Frau schlüpft daraufhin nicht nur in die Kleider, sondern auch in das unerwartet spannende Leben ihrer Mutter, ja sie wird in ihren eigenen Augen und in denen ihres Umfelds zu ihrer Mutter. Oder ist all das nur eine Illusion?

 

Reif Larsen: „Die Rettungs des Horizonts“

Dass ein Junge namens Radar als Kind weißer Eltern mit dunkler Hautfarbe geboren wird, mag ungewöhnlich erscheinen. Aber nicht annähernd so ungewöhnlich wie die Story, die sich in der Folge rund um eine geheimnisvolle Puppenspielergemeinde entspinnt, die Radars „Defekt“ beseitigen soll und ihn zum unfreiwilligen Zentrum ihrer weltweiten Bewegung macht. Die über 700 Seiten dieses Romans nehmen uns mit auf eine „irrwitzige und spannende Reise rund um den Globus und durch das 20. Jahrhundert“, nach New Jersey und in die Arktis, vom Bürgerkriegs-Bosnien bis nach Kambodscha und in den Kongo.

 

Ian McEwan: „Nutshell“ bzw. „Nussschale“

Jüngster Bestseller des Meister-Literaten. Eine werdende Mutter plant mit ihrem Liebhaber den Mord am Vater des Kindes. Dabei gibt es allerdings einen unerwarteten Mitwisser: das ungeborene Kind in ihrem Bauch, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird. Nach zweiseitigem Anlesen im Buchladen musste ich mir den allein schon wegen des sprachlichen Genusses zulegen.

 

Jonathan Safran Foer: „Here I Am“ bzw „Hier bin ich“

Der neue Roman des gefeierten amerikanischen Autors („Alles ist erleuchtet“, „Extrem laut und unglaublich nah“) nach 11 Jahren. Familienkrise meets drohendes globales Desaster, Geschichte und Gegenwart verweben sich ineinander, schwere existenzielle Fragen werden mit erzählerischer Leichtigkeit aufgeworfen… all das verspricht dieser monumentale Wälzer.

 

Richard Schwartz: „Das Geheimnis von Askir“

Nachdem George R.R. Martins „A Song Of Ice And Fire“ mich wieder offen für fantastische Welten gemacht hat, werde ich mir mit „Das Geheimnis von Askir“ ein weiteres Fantasy-Epos vorknöpfen. Band 1 beginnt mit einem Mord in einem eingeschneiten Gasthaus, den es aufzuklären gilt. Wenn ich so aus dem Fenster schaue, scheint mir das die perfekte Lektüre für die momentane Jahreszeit zu sein.

 

Ich hoffe, euch mit dieser kleinen Auslese meines künftigen Schmöker-Programms vielleicht die eine oder andere Inspiration für eure eigene Lektüre geben zu können.
Oder habt ihr gar einen oder mehrere der Romane schon gelesen und eine Meinung dazu? Dann hinterlasst mir gerne einen Kommentar!

Überhaupt: jetzt seid ihr dran! Lasst mich wissen, was ihr euch dieses Jahr zu lesen vorgenommen habt. Ich freue mich auf eure Anregungen!

Comic Tipp: Noelle Stevenson, „Nimona“

Profi-Fiesling Ballister Blackheart staunt nicht schlecht, als Nimona sich  ihm unaufgefordert als Assistenz-Bösewichtin präsentiert. Es könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein – wenn das Leben nicht um einiges verzwickter wäre. Auf jeden Fall aber ist es der Auftakt einer vielfach prämierten Graphic Novel von Noelle Stevenson, die den Namen ihrer (Anti-)Heldin als Titel trägt.

Man kann dem guten Ballister das erste Stutzigsein nicht ganz verdenken, ist Nimona doch allein schon optisch eher unkonventionell. Mit Strickpulli, kurzem Kleid, hohen Boots und ihrem Feather Cut wirkt sie punkig, wie eine Renee oder ein Riot Grrrl. Wenn sie nicht gerade wie ein Adler oder eine Katze ausschaut. Oder wie ein Drache. Denn Nimona gehört zur raren Spezies der Shapeshifter.

Diese Besonderheit hat ihr, wie sich im Laufe der auf einem Web Comic basierenden Graphic Novel herauskristallisiert, nicht gerade die besten Erfahrungen mit anderen Menschen beschert. Was wiederum dazu geführt hat, dass sie selbst im Umgang nicht ganz einfach ist. Ihr Charakter entspricht durchaus ihrem Äußeren: auffällig und eigenwillig, kratzbürstig und putzig zugleich. Es fällt schwer, sich nicht von ihrer begeisterten Energie anstecken zu lassen, auch wenn diese bisweilen mit desaströsem Ausgang in fragwürdige Bahnen gelenkt wird. Selten hat jemand so liebenswürdig überambitioniert die Menschheit vernichten wollen.

Nimonas vermeintlicher neuer Chef (aber wer übernimmt hier eigentlich wirklich die Hauptrolle und das Kommando?) Ballister Blackheart hat ebenfalls eine tragische Geschichte, zwischenmenschliche Enttäuschungen höchsten Grades inklusive. Und so hat auch ihm das Schicksal den Platz zugewiesen, an dem er sich nun befindet: denjenigen des Oberschurken von Amts wegen. Ein Posten, den er im Unterschied zu Nimona eher mit Pflichtbewusstsein als mit Enthusiasmus ausübt.

Als Counterpart steht dem kauzigen Duo die Agentur gegenüber, eine Institution, die scheinbar dem Wohl der Allgemeinheit dient, aber in Wirklichkeit hinter deren Rücken düstere Machenschaften treibt. Blackheart wie auch Nimona werden alles unternehmen, der Agentur dabei in die Quere zu kommen. Es fragt sich, wer nun auf der Seite des Guten und wer auf derjenigen des Bösen steht. Fraglich außerdem, ob Nimona Blackheart eher unterstützt oder hindert.

Apropos Gegenspieler. Vielleicht wundert ihr euch, wer wohl die dritte Person auf dem Buch-Cover sein mag. Ich persönlich habe stark darauf getippt, dass es sich bei dieser holden Maid mit der wallenden goldenen Mähne um Blackhearts Angebetete handeln und sich zwischen den beiden eine Romanze entspinnen wird.

Damit lag ich wohl etwas daneben. Denn die holde Maid hat sich zunächst einmal als holder Herr entpuppt. Merke: Auch wer sich mit Geschlechtervielfalt auseinandersetzt, ist vor stereotyper Wahrnehmung längst nicht immer gefeit. Alleine für diesen netten Selbstentlarvungs-Moment hat sich die Lektüre für mich doch gelohnt.
Dieser Herr hört auf den Namen Ambrosius Goldenloin (!) und ist seines Zeichens Blackhearts absoluter Erzfeind im Dienste der Agentur.
Gleichzeitig lag ich so daneben nun auch wieder nicht. Sagen wir einmal so: dass Erzfeinde in einem dialektischen Hodgepodge stark aufeinander bezogen, ja sogar angewiesen sein können, steht außer Frage. Da liegt es nicht so wahnsinnig fern, dieser engen Verstrickung noch einen etwas anderen Twist zu geben…

Da ich euch jetzt die nicht völlig originellen Grund-Ingredienzien verraten habe, meint ihr sicherlich die gesamte Story vorhersehen zu können.
Diese würde dann in etwa so verlaufen: Die beiden vermeintlich bösen Außenseiter mit harter Schale, aber zartschmelzendem Kern bekämpfen die Agentur. Bei diesem siegreich ausgefochtenen Kampf stellen sie sich als die eigentlich Guten heraus und finden in einer tiefen Freundschaft zueinander, die sie die Traumata der Vergangenheit überwinden lässt. Fortan leben beide als zufriedene, ausgeglichene Wesen. Obendrein vereinen sich noch Ballister Blackheart und Ambrosius Goldenloin dem Schicksal zum Trotz in romantischer Zweisamkeit. #Allyouneedislove #Happyend #Undwennsienichtgestorbensind…

Doch ohne zuviel vorwegnehmen zu wollen, ganz so kommt es nicht, wenn auch nicht ganz nicht so. Will sagen, die Geschichte ist genauso wenig vorherhsehbar glatt gebügelt wie ihre Protagonistin. Auch wenn einem das ganz schön vor den mit ausgeleierten Schemata vollen Kopf stoßen kann – genau das macht die Stärke dieses  Bildermärchens aus.

Aber lest selbst… und denkt dran: Wie bereits die Buch-Rückseite total unplakativ verspricht, gibt es neben subversiv aufgebrochenen Story-Klischees und komplexer (Zwischen-)Menschlichkeit auch „NEMESES! DRAGONS! SCIENCE! SYMBOLISM!“

Noelle Stevenson, „Nimona“, 272 Seiten, 2015 erschienen bei Harper Collins.

Ausgezeichnet als Indies Choice Book of the Year * National Book Award Finalist * New York Times Bestseller * New York Times Notable Book * Kirkus Best Book * School Library Journal Best Book * Publishers Weekly Best Book * NPR Best Book * New York Public Library Best Book * Chicago Public Library Best Book.

Lieblingsstreberin: Flavia de Luce

Das Missy Magazine kürt in jeder neuen Ausgabe einen fiktiven Charakter zur Lieblingsstreberin. Wenn eine den Inbegriff dieses Ehrentitels verkörpert, dann ist das meiner bescheidenen Meinung nach Flavia de Luce. Ich möchte sie deshalb als meine persönliche Lieblingsstreberin ergänzen.

Flavia de Luce ist die investigative Heldin einer Krimi-Reihe des kanadischen Autors Alan Bradley. Mit ihren gerade einmal 11 Jahren ist sie alles andere als ein gewöhnliches Mädchen.

Man könnte sie vielleicht als „frühreif“ bezeichnen, aber ich bin mir unsicher, ob dieses Wort außerhalb von 70er Jahre-Aufklärungsfilmchen gebraucht wird und nicht eher missverständlich rüberkommt… Was ich sagen will: Flavia ist hochintelligent und sieht die Welt um sie herum mit klugem, kritischem Blick.

Ihre Welt ist ein ländliches England in den 1950ern. In der Nähe des Dörfchens Bishop´s Lacey lebt sie auf dem altehrwürdigen Familienanwesen Buckshaw.

Zu ihrer Familie gehört zunächst der Vater, ein Patriarch alter, gefühlsunterkühlter Schule vom Typus „Stock im Popo“. Sodann die beiden älteren Schwestern mit den gänzlich unprätentiösen Namen Daphne und Ophelia, mit denen Flavia nicht wirklich etwas anfangen kann. Die eine steckt permanent mit der Nase in Romanen, die andere ist in erster Linie mit ihrer eigenen Nase und dem Rest ihres Spiegelbilds beschäftigt. Von Geschwisterliebe spürt man wenig. Was eine Art von Beziehung zwischen den drei Mädchen stiftet, ist wenn überhaupt der Wunsch, die anderen beiden verbal oder mit Streichen so richtig in die Pfanne zu hauen. Last but not least zählt außerdem Dogger zu den Bewohnern Buckshaws, ein vom Krieg traumatisierter Freund des Vaters, der als Junge für alles des Hauses fungiert.

Über alledem schwebt der Geist der verstorbenen Mutter Harriet, einer eigensinnigen Abenteuerin, die bei einem Ausflug ins Himalaya-Gebirge ums Leben kam, als Flavia gerade einmal ein Jahr alt war. Man munkelt, unsere Protagonistin habe ihren Charakter von dieser badass Mama. Ganz sicher ist, dass sie von ihr eine unsterbliche Leidenschaft geerbt hat: die Liebe zur Chemie. Nichts bereitet Flavia mehr Freude, als über dicken Wälzern zu brüten, die sie in die Geheimnisse dieser Disziplin einweihen, und selbst im Labor zu erproben, was sich mit der Macht des Wissens und der Elemente hervorzaubern lässt. Unter den Wundern, die ihr die Chemie enthüllt, fasziniert sie vor allem eines: Gift.

„Gift?! Das ist doch nichts für liebe, brave Mädchen!“, mag man einwenden. Sehr richtig. Aber Flavia will auch nichts weniger sein als das. Das unschuldige girly girl spielt sie allerhöchstens mal, wenn es ihr strategisch nützt. Ansonsten hat sie nicht viel dafür übrig, für ein süßes Herzchen gehalten zu werden – dank ihrer Passion aber das richtige Mittel für diejenigen parat, die genau das tun:
„If there is a thing I truly despise, it is being addressed as „dearie“. When I write my magnum opus, A Treatise Upon All Poisons, and come to „Cyanide“, I am going to put under „Uses“ the phrase „Particularly efficacious in the cure of those who call one „Dearie“.“

Bereits in ihrem jungen Alter ist die Nachwuchs-Chemikerin eine überzeugte Feministin. Was bleibt einer auch anderes übrig, bei der irrsinnigen Behandlung, die die Welt Frauen und Mädchen zuteil werden lässt? Beispielsweise wenn der Kommissar sie als wichtige Zeugin nicht um einen Faktenbericht, sondern um eine Tasse Tee bittet:
„Without so much as a kiss-me-quick-and-mind-the-marmalade, the only female in sight is enlisted to trot off and see that the water is boiled… The nerve! The bloody nerve!“

Und das, obwohl sie alles hat, was es für eine wertvolle Zeugin braucht. Eine genaue Beobachtungsgabe. Einen cleveren, analytischen Kopf. Die Abgebrühtheit einer Person, die sich in brenzliger Lage fragt, was Marie-Anne Paulze Lavoisier wohl in dieser Situation getan hätte, statt die Nerven zu verlieren.

Eben dadurch eignet sie sich auch bestens als Ermittlerin mit ganz eigenen Methoden. Als solche möchte ich sie euch ans Herz legen.

Nach allem, was ich bisher geschrieben habe, könnt ihr euch sicher vorstellen, dass der Fund einer Leiche im Buckshawschen Gurkenbeet Flavia nicht völlig in Angst und Schrecken versetzt. Eher in einen Zustand kitzelnder Neugier, ja fast schon Freude. Neugierig und vorfreudig können auch die Leser*innen sein, denn damit beginnt ihr erster von bisher acht Fällen.
Das englische Original heißt „The Sweetness at the Bottom of the Pie“; in der deutschen Übersetzung lautet der Titel sinnigerweise „Mord im Gurkenbeet“ und ist bei Blanvalet erschienen.

Ich persönlich kann mich ja durchaus auch für männliche Spurensucher mittleren Alters erwärmen, die  wortkarg durch die Landschaft Skandinaviens/Großbritanniens/der USA/Frankreichs [Fehlendes bitte hier ergänzen: ______________ ] eigenbrödel-rödeln. Aber falls euch die zu langweilig sind oder ihr einfach mal Lese-Appetit auf was anderes habt – Flavia de Luce Mysteries sind eine echte Alternative.

 

Buch Tipp: Rasha Abbas, Die Erfindung der deutschen Grammatik

Was haben Jobcenter-Beamte, Sherlock Holmes und die Apokalypse gemeinsam? Sie alle tauchen in „Die Erfindung der deutschen Grammatik“ auf, Rasha Abbas´ neuem Band mit Kurzgeschichten rund um den Flüchtlingsalltag in Deutschland. Ein oft ungewöhnliches, meist vergnügliches Zusammentreffen skurriler Welten.

Mit „Die Erfindung der deutschen Grammatik“ ist im März 2016 Rasha Abbas´ dritter Kurzgeschichten-Band zunächst im E-Book-Verlag mikrotext, später auch als Taschenbuch bei Orlanda erschienen. Abbas ist eine syrische Autorin und Journalistin. Derzeit lebt sie in Berlin.

Von den Abenteuern, um nicht zu sagen: kleinen Odysseen, die sie als Geflüchtete aus Syrien in unserer Hauptstadt erlebt, handeln die Erzählungen, die sie in dem etwas über 100 Seiten schmalen Bändchen versammelt. Beziehungsweise müsste es korrekter heißen, dass die Geschichten mit ganz banalen Situationen ihres Lebens, einer Wohnungsbesichtigung etwa oder einer Unterrichtsstunde im Integrationskurs, beginnen. Um sich oft zu völlig surrealen Szenarien auszuwachsen.

Mit feinem Gespür deckt Abbas die reale Absurdität kleiner Alltagsmomente auf – mit riesiger Fabulierlust steigert sie den Irrsinn ins Fantastisch-Unermessliche. Die Geschichten wirken mitunter comicartig überdreht, aber deswegen dem Ernst der Lage nicht weniger angemessen. So ist es beispielsweise erstaunlich, wie passend die Betrachtung eines Behördengangs als besonders kniffliges Videogame mit unterschiedlichen Leveln erscheint. Fast könnte man meinen, dass er auch für den*die Leser*in in dieser Sichtweise zum ersten Mal Sinn ergibt.

Ebenfalls skurril ist das Personeninventar. Abbas fährt eine Parade diversester kurioser Gestalten auf, die jedoch allesamt so oder zumindest erschreckend ähnlich in der Wirklichkeit vorkommen (könnten). Vom brummeligen Vermieter, für den alle ausländischen Namen gleich klingen, zu den beiden syrischen Freunden, die sich darum streiten, wer weniger Flüchtling ist als der andere. Vom Hipster, den man nur mit Dosenfleisch-Wasser auf Abstand halten kann, zum Dealer, der als wandelndes schlechtes Vorbild eine aufklärerische Hip Hop-Karriere hinlegt.

Abbas´ Witz mag stellenweise ziemlich bissig sein, gehässig aber ist er nicht. Das liegt daran, dass sie niemals eine bestimmte Menschengruppe allein vorführt. Vielmehr verteilt sie augenzwinkernde Spitzen in alle Richtungen. Frei nach dem Motto: wahre Toleranz ist, wenn man alle gleichermaßen durch den Kakao zieht. Nicht zuletzt sich selbst.

Wie es seit jeher die oberste Regel der Komödie ist, stellt sie dabei die Ordnung gehörig auf den Kopf. Und lässt sie so stehen. Das ist ebenso unterhaltsam wie aufschlussreich. Vor allem, wenn es um die Tücken der Selbst- und Fremdwahrnehmung geht, um Vorurteile und Neusein in einem anderen Land, einer anderen Sprache.

Mit ihren im Durchschnitt um die 10 Seiten sind die einzelnen Erzählungen nicht nur kurz, sondern auch kurzweilig. Sie eignen sich daher bestens für Zugfahrten, als Balkon- oder Baggersee-Lektüre. Das mag ungewöhnlich für ein Buch zu einem solch ernsthaften Thema sein. Manch eine*r mag sich sogar fragen: Geht denn das, auf solche Weise über einen derartigen Inhalt zu schreiben? Noch dazu in einem grellgelb-pinken Bändchen, das auf den ersten Blick seine Zugehörigkeit zur Popliteratur verrät.

Ich sag mal ganz vorsichtig: ja. Und empfehle für den Einstieg meine persönliche Lieblingsstory „Hipster-Apokalypse“.